In den ersten Tagen hatten wir viele, viele Begegnungen mit Menschen, die uns Informationen lieferten und uns erstaunliche, schockierende und auch immer wieder sehr bewegende Geschichten aus Palmasola erzählten. Wir wussten auf eine Art viel und gleichzeitig überhaupt nicht, was uns am 28. Januar erwarten würde, als wir das erste mal gemeinsam als Produktionsteam in diese Gefängnisstadt hineingingen.
Um es kurz zu machen: unser erster Tag war erstaunlich zivilisiert und eröffnete zugleich Einblicke in unglaubliche Abgründe. Ich habe es komplett anders erlebt als vor zwei Jahren, als ich zum ersten Mal in Palmasola war. Schon allein, weil mir häufig kalt war, da wir uns zu einem Großteil in einem auf 16 Grad klimatisierten Büro aufhielten. Dort erzählten uns drei Delegierte der neuen Gefängnisleitung der Insassen wie die Razzia am 14. März letzten Jahres ablief. Es muss ein traumatischer Moment für alle Gefangenen gewesen sein. Als erstes demonstrierte der Oberste der Insassenorganisation mit welchen Handgriffen die Polizisten die Gefangenen an diesem Tag zu Boden warfen und ihnen dort einen schweren Holzprügel in den Nacken pressten, damit sie sich nicht bewegen konnten. Danach explodierte förmlich einer der drei Delegierten und berichtete hoch emotional und in einem unglaublichen Tempo von den Schikanen, die darauf folgten; hier kurz zusammengefasst: die Gefangen, ungefähr 4'500, mussten auf dem Fußballplatz 14 Stunden lang bei teilweise sengender Sonne und 38 Grad dicht aneinander gedrängt mit dem Gesicht nach unten liegen. Wer aufstand riskierte erschossen zu werden. In den folgenden Tagen wurde kein Essen in die Anstalt geliefert. Die rhetorische Frage, weshalb wir so wenige Hunde und Katzen im Gefängnisdorf sehen, beantwortete der Gefangendelegierte gleich selbst und klärte uns auf, dass viele dieser Tiere während der Razzia mangels anderer Nahrung aufgegessen wurden.
Ich könnte so viel erzählen... Wir besuchten einige der unterschiedlichen Pabellones, also unterschiedliche Wohneinheiten der Gefangenen. Zuerst ging’s in den Pabellon 1, wo sich Gefangene mit viel Geld einquartieren. Ein kleiner Innenhof mit Freiluftküche, überdachtem Sitzplatz, sauberen Duschen und Toiletten, Einzelzimmern, mit 12 Angestellten für Küche und Hausarbeit, die gemeinsam in einem Zimmer auf engstem Raum in dreistöckigen Hochbetten schlafen. Von diesem ersten Pabellon stiegen wir Stufe für Stufe die soziale Leiter hinunter bis wir in einer Unterkunft ankamen, wo alles nur noch eng und dunkel war, aber die Leute sehr freundlich und offen. Gruselig wurde es, als wir über eine schmiedeeiserne Wendeltreppe einen Stock höher einen Gefangenen besuchten, weil wir wußten dass er deutsch spricht. Er hatte einen schockierenden, sowohl apathischen wie elektrischen Gesichtsausdruck. Am auffälligsten war sein maisgelbes Gebiss mit doppelten, übereinanderstehenden Schneidezähnen. Ist er ein böser Mensch, weil er so aussieht? Sehr wahrscheinlich sitzt er wegen serieller Vergewaltigung in der Mennoniten-Gemeinde ein. Aber wissen wir das? Oder suchen wir nach den kriminellen Sensationen.
Das war der Anfang unseres ersten Tages. Danach ging es weiter und weiter und weiter und weiter.
Jetzt gehen wir David Campesinos 40. Geburtstag feiern. Die 50 Gefangen, denen wir heute ein paar Informationen zu den Theaterworkshops für morgen und übermorgen gaben, hatten ihm die spanische Version von Happy Birthday gesungen. Es war ein großartiger Moment.